Sachbücher
Im Feuerofen der Nazis.
Jehovas Zeugen in Heilbronn.
tredition 2016
76 Seiten
7,99 €
REZENSION VON DORIAN MOSEMANN
Ein aufklärender Überblick der Heilbronner NS-Vergangenheit im Umgang mit Zeugen Jehovas
Rezension von Michael Hetzners
"Dokumentation: Im Feuerofen der Nazis – Jehovas Zeugen in Heilbronn" (Hamburg 2016)
Michael Hetzner (MH) befasst sich auf 70 Seiten mit dem Schicksal von Heilbronner Zeugen
Jehovas bzw. Bibelforschern während des NS-Regimes. Es handelt sich nicht um einen
Selbstbericht von einem betroffenen Zeitzeugen (vgl. "Zeugnis vom Untergang Königsbergs" des
Geltungsjuden Michael Wieck, 2. Aufl., München 2009), sondern um einen Fremdbericht über
solche aus der Rechtsstaatsperspektive im Sinne des Art. 20 III GG (S. 43).
"Wir leiden doch noch an den Folgen des […] Krieges. Ich kann mich nur mit meinem Glauben
trösten." -Mina Schenk, S. 42
MH lässt ergreifende Dokumente wie Häftlingspapiere, örtliche Tageszeitungsausschnitte,
Lichtbilder, Briefe und mündlich bewährte Überlieferungen betroffener Zeitzeugen unter
Heilbronns Zeugen Jehovas sprechen. Er fügt ihre Einzelschicksale elegant zu einem Gesamtbild
zusammen. Dieses ist das bibelforscherfeindliche Heilbronn der NS-Zeit (1933-1945). Mit der
vorbehaltlosen Beteiligung dieser Großstadt an der systematischen Tötung ihrer Einwohner leistete
sie ihren beschämenden Beitrag zum allumfassenden Ausmaß des Holocausts. Der beispielhafte
Trauerfall des im besetzten Norwegen hingerichteten Heilbronners Max Grau veranschaulicht die
gnadenlose Konsequenz, mit der die Nationalsozialisten fliehende Regimegegner wie ihn in den
Tod hetzten (S. 33 f.). MHs nüchterne Darstellung drängt dem Leser dabei unmerklich eine äußerst
bedeutsame Weisheit auf: Der Faschismus funktioniert nur, wenn Alle gleich denken.
Ausdruck dieser geistigen Gleichschaltung ist die peinlich ungebildete, propagandistisch
wirkungsvolle Gleichsetzung der christlichen Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas mit dem
Judaismus (S. 12 nach dem Heilbronner Tagblatt vom 15.11.1933). Ein derartiges Unwissen über
das Christentum macht wundern, wie wenig man damals überhaupt über Juden und weitere
systematisch verfolgte Menschengruppen wusste (Homosexuelle, Kommunisten, körperlich sowie
seelisch Kranke, Sinti und Roma usw.). Mitläufer sind meist Mitdenker. Mit den Meisten beherrscht
man die Welt. Solch eine unmündige Einstellung ist gefährlich, wenn sie wie im Fall des NSRegimes
die Staats- und Gesellschaftsordnung ausmacht. Ein Satz aus einer Rede der
Nationalsozialisten brachte diese ihre Gesinnung treffend zum Ausdruck: "Wer nun gegen diese
Anmaßung [der NSDAP] opponiert, ist Staatsfeind und damit nach demokratischer Auffassung
vogelfrei."
Umso bewundernswerter, dass Zeugen Jehovas mit ihrem Verhalten bewiesen, dass Religion in
weltgeschichtlichen Krisenzeiten auch eine aufgeklärte, höchstpersönliche Kraft zu entfalten
vermag. Immerhin überlebten sie das NS-Regime als Glaubensgemeinschaft (S. 48). Gleiches gilt
für Juden und polnische Katholiken. Das gestehen sich ihre unreligiösen Gesinnungsgegner ungerne
ein. Denn es stimmt. Auch ist es schwer, sich und Anderen als Mensch treu zu bleiben. Dies
veranschaulicht der Fall um die Gebrüder Knöller eindrucksvoll (S. 34 ff.). Es ist, wie der jüdische
Psalmist Asaph sagte: "Ja, neidisch war ich auf die Narren, den Frieden der Bösen sah ich" (Psalm
73:3 in meiner Übersetzung aus dem Hebräischen der Biblia Hebraica Stuttgartensia, 5. Aufl., USA
2007). Erst mit dem mündigen Widerspruch ist der erfolgreiche Widerstand gegen widrigste
Umstände auf Dauer absehbar. Die Zivilcourage von Mitmenschen kann dazu beitragen.
MH vervollständigt seinen Überblick mit einem persönlich gezeichneten gesellschaftlichen
Ausblick über das Verhältnis zwischen Menschen und Religion. Die blühende Gegenwart der
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Heilbronner Zeugen Jehovas dient als ein beispielhafter Ausdruck eines beständigen Rechtsstaats
(S. 48 ff.). Ebenso die allmähliche Aufarbeitung ihres friedlichen Widerstands im Angesicht des
NS-Regimes (S. 51).
Fehlt dem Menschen Religion, also die Rückverbindung mit jemandem, bleibt ihm die Resignation,
also die Verkennung desselben: Auf S. 45 zu Fußnote 52 besiegelt MH diesen Ausblick auch für
Unreligiöse mit der Hoffnung. Problematisch ist die Absolutheit dieser Folge. Offensichtlich bleibt,
dass sie selbst Ausdruck eines abendländischen Empfindens ist. Dieses vermag keine
überindividuelle Kraft jenseits einer persönlichen Beziehung zwischen Menschen und dem eigenen
Gewissen zu schöpfen. Damit steht und fällt die Hoffnung. Kein Wunder, manch ein Intellektueller
weiß nicht weiter (so der österreichische Jude Jean Améry in "Jenseits von Schuld und Sühne –
Bewältigungsversuche eines Überwältigten, 7. Aufl., Stuttgart 2012, S. 20-25, 40, 46 f. und an
weiteren Stellen). Sein Vertrauen in die Welt hängt nur von ihm selbst ab. Gegenseitige
Anteilnahme bleibt ein oft unerfüllter Wunsch in einer vertrauensunwürdigen, enttäuschenden Welt.
Südostasiatische und weitere Gesellschaften schöpfen diese überindividuelle Kraft aus der
Erinnerung an Ahnen sowie der Besinnung auf Mitmenschen. Doch können sich auch dort
vertrauensbrechende Lügen verbergen. Erfreulicherweise ist es jedem selbst überlassen, dies wie
Theologe Karl-Josef Kuschel als persönlichen Ansporn zu sehen (S. 45 ff.). Dies sieht auch MH so
(S. 47).
3 Anhänge sind beigefügt: Anhang I besteht aus Offizialdokumenten, die den damaligen Umgang
mit Zeugen Jehovas aufzeichneten. Anhänge II und III enthalten jeweils eine historische
Kurzgeschichte über das Leid anderer damals verfolgter Menschengruppen (Juden in "David" und
polnische Katholiken in "Jedwabne"). Zwar weichen Anhänge II und III förmlich von MHs sonst
streng befolgtem Dokumentarstil ab. Inhaltlich geht es dabei auch nicht mehr um Zeugen Jehovas.
Doch traf der Holocaust nicht nur Zeugen Jehovas. Vielmehr nutzt MH zum Schluss die
Gelegenheit, die allzumenschliche Verletzlichkeit aller betroffenen Zeitzeugen im Umgang mit der
Wunde des Zweiten Weltkriegs anzusprechen. Mit diesem würdevollen Gedanken endet sein Buch.
Die Bibliografie umfasst über 2 Seiten anregenden Lesestoffs für weiterführende Untersuchungen
zum Thema.
Die Originaltexte in manchen Abbildungen (S. 30, 38, 56 f. und an weiteren Stellen) sind teilweise
nicht oder nur schwer leserlich. Das stört. Dies liegt wohl an einer geringen Auflösung der
Originaldateien. Eine optimierte Neuauflage kann dieses Problem vielleicht lösen. Ein Tippfehler ist
auf S. 35 zu finden ("[A]ufgrund [...] einem [sic] schweren Nierenleiden [sic] statt: "[...] eines
schweren Nierenleidens").
Nichtsdestotrotz empfehle ich diesen aufklärenden Überblick der Heilbronner NS-Vergangenheit im
Umgang mit Zeugen Jehovas.
Es dankt für die Lektüre eines äußerst lesenswerten Buchs Dorian Mosemann.
Heilbronn 2020
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Gestörtes Glück im Innenraum.
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Aisthesis Verlag 1991
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(Nur noch antiquarisch erhältlich)